Die Chinesische Mauer erstreckt sich von der Bohai-Küste bis zum Sand der Gobi und ist mehr als 20.000 Kilometer lang. Sie ist kein einzelnes, einheitliches Bauwerk, sondern eine Reihe miteinander verbundener Befestigungsanlagen. Bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. errichteten die ersten Erbauer Dämme aus Stampflehm und hölzerne Palisaden. Die Herrscher der Streitenden Reiche – darunter Qin, Wei und Yan – legten Grenzbefestigungen an, die der erste Kaiser, Qin Shi Huang, später zu einer zusammenhängenderen Barriere verbinden ließ. Jahrhunderte vergingen, bis nachfolgende Dynastien die Form der Mauer verfeinerten, aber zwei Epochen ragen hervor. Die Qin-Dynastie etablierte das Prinzip einer einheitlichen Linie; die Ming-Dynastie wandte Ziegel- und Werksteintechniken an, verbreiterte Zinnen und vertiefte Fundamente, um den sich wandelnden militärischen Erfordernissen gerecht zu werden.
Arbeiter kamen aus Gefängnissen, Garnisonen und Dörfern. Bauern tauschten die Erntezeit gegen Zwangsarbeit unter Bewachung. Entlang von Berggipfeln, in Flusstälern und auf trockenen Hochebenen entstanden Lager. Ofenmeister in Shanxi brannten Millionen von Ziegeln, während Soldaten in Schächten und Bastionen die Erde stampften. Wissenschaftler schätzen, dass die Kohorten monatelang zwischen den Baustellen wechselten. Erschöpfung, Kälte und knappe Vorräte forderten unzählige Todesopfer. Wer durch bestimmte Abschnitte reist, entdeckt noch heute provisorische Gräber und Steinhaufen mit verwitterten Inschriften – Erinnerungen an die menschlichen Opfer des Mauerbaus.
Ursprünglich dazu gedacht, berittene Angreifer auf enge Zugänge zu lenken, stützte sich die Mauer auf in Abständen aufgestellte Signaltürme. Rauch am Tag und Feuer in der Nacht trugen Warnungen über die Bergrücken. In der Han-Zeit dienten Garnisonen gleichzeitig als Zollstationen. Händler, die Seide, Gewürze oder Metalle transportierten, passierten Schießscharten und entrichteten Abgaben, die die Grenzgarnisonen versorgten. Während der Ming-Herrschaft stellten sich die Ingenieure auf Schießpulver um. Sie schnitten Schießscharten für Kanonen, verstärkten Tore mit Eisenplatten und fügten Holzstützen für Katapulte ein. Doch die Weiterentwicklung der Kavallerietaktik und der Feuerwaffen ließ die statischen Verteidigungsanlagen schließlich an Kraft verlieren, und 1644 erklommen mandschuische Truppen geschwächte Abschnitte nahe dem Shanhai-Pass.
Jenseits von Stein und Mörtel erlangte die Mauer durch Volkstraditionen Bedeutung. Dorfbewohner überlieferten Berichte von spirituellen Eingriffen: die Tränen einer Witwe, die das Mauerwerk aufhielten, bis ihre Klage den Himmel erreichte; das mitternächtliche Ritual eines Mönchs, der Erdgeister anrief, um einen einstürzenden Bergrücken zu stützen; ruhelose Schatten von Arbeitern, die im Fackelschein die Wälle patrouillierten. Diese Erzählungen weisen einen Sinn jenseits kaiserlicher Erlasse zu und verbinden die Steine der Mauer mit menschlicher Hingabe. Ein Junge in Liaoning, der in sengender Hitze Wasser trug, wird in Liedern zum stillen Helden, dessen Güte ein Fundament vor dem Einsturz bewahrte. In Gansu werden an Bergpässen noch immer Opfergaben an Berggottheiten dargebracht, entsprungen aus dem Glauben, dass guter Wille die Steine der Mauer dem Frostbruch widersteht.
Mit dem veränderten Grenzdruck vernachlässigte man die Instandhaltung, und viele Abschnitte verfielen. Einheimische sammelten Ziegelsteine für Häuser und Gräber. Westliche Reisende und chinesische Literaten des 19. Jahrhunderts begannen, Türme zu skizzieren und Inschriften aufzuzeichnen, um Details zu bewahren, die durch Wetter und Vandalismus zu vernichten drohten. Es entstanden Gemälde von Mauern, die sich unter herbstlichem Himmel schlängelten, und Naturforscher katalogisierten die Flora, die durch die rissigen Zinnen wuchs. Die Mauer entwickelte sich von einer Verteidigungsanlage zu einem Objekt des Studiums und der Bewunderung.
Im späten 20. Jahrhundert wurden Abschnitte nahe Peking – Badaling, Mutianyu und Jinshanling – sorgfältig restauriert. Wege erhielten Handläufe, erläuternde Tafeln schilderten die dynastischen Phasen. Diese Abschnitte werden heute jährlich von Millionen von Besuchern besucht. Jenseits der restaurierten Stätten liegen ruhigere Erdwerke, überwuchert von wilden Gräsern und Rosensträuchern, wo man die Einsamkeit spüren kann, die einen Zwangsarbeiter vor Sonnenaufgang erwartete. Geschichtenerzähler in Dorfhallen rezitieren Legenden neben bröckelnden Türmen, und regionale Feste stellen die Gesänge der Maurer nach, die einst von Arbeitern gesungen wurden.
Heute ist die Große Mauer mehr als nur ein Relikt militärischer Strategie. Sie ist ein kulturelles Symbol, auf Geld gedruckt, in Klassenzimmern gelehrt und fester Bestandteil der nationalen Identität. Offizielle Erhaltungsbemühungen umfassen sowohl das Materielle als auch das Immaterielle: Steinmetze reparieren beschädigte Abschnitte, während die Ältesten Geschichten erzählen, die über Generationen hinweg überliefert wurden. In jedem verwitterten Ziegel und jeder Wölbung aus Stampflehm findet man die Spuren dynastischen Ehrgeizes, kollektiver Opferbereitschaft und des menschlichen Impulses, durch Geschichten Bedeutung zu verleihen.